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zur Zeit nicht ausgestellt
Inv.-Nr.: Be 610

Kuse, «Falcione»,
italienisch, 2. Hälfte 17. Jahrhundert, für die Garde Ranuccio II. Farnese, Herzog von Parma und Piacenza (1646 – 1694)

Langes, breites, spitzovales Eisen, als volle Rückenklinge (Länge 64 cm, Breite 105 mm) gearbeitet, Ortdrittel zweischneidig, Basis gerundet, beidseitig kleine Parierdornen. Das Blatt weist beidseitig den gleichen Ätzdekor auf, der zwei Drittel der Fläche einnimmt: im Zentrum in einer von Satyrn gestützten barocken Kartusche das farnesische Wappen, überhöht von der Herzogskrone, die von zwei Putten gehalten wird, dazu symmetrisch angelegter Ranken- und Blattdekor. Achtkantige, konische Tülle, die in einen gedrückten Ziernodus mündet, zwei Schaftfedern, eine Feder defekt, geätzter Ranken- und Blattdekor. Rundschaft, teilweise mit Stoff bespannt, Ziernieten.

Gesamtlänge: 247 cm, Gewicht (mit Schaft): 2580 g
Provenienz: Galerie Fischer, Luzern, 23. 6. 1965, Nr. 21.

Kommentar

In italienischen Quellen des 13. – 15. Jahrhunderts wird eine als «falconem» (Bologna 1252, 1259, 1288), «falcono» (Verona 1267), «falcone» (Forli 1359), «falconum» (Ravenna 1441) usw. bezeichnete Stangenwaffe regelmässig erwähnt. «Falcione» basiert gemäss Angelucci auf dem mittellateinischen «Falconus» oder «Falconius». Amtliche Schreiber, aber auch Chronisten waren im Mittelalter hinsichtlich der Waffenterminologie nicht besonders konsequent. So war es gang und gäbe, dass für dieselbe Waffe unterschiedliche Bezeichnungen verwendet wurden oder dass eine Bezeichnung unterschiedliche Waffentypen beinhalten konnte. In welchem Masse die erwähnten Falcioni des 13. – 15. Jahrhunderts mit noch erhaltenen Exemplaren des 16./18. Jahrhunderts übereinstimmen, lässt sich daher nicht mit Bestimmtheit sagen. Die bekannten Spätformen sind mit langen, vollen Rückenklingen, deren Rücken zumeist in der Achse des Schaftes verläuft sowie Schneiden, die zwischen Basis und Ort einen weiten, sehr flachen Bogen bilden, ausgestattet. Die Klingen sind nach der Blattmitte oder nach dem letzten Drittel zweischneidig. Die beiden Parierdornen an der Basis degenerierten im 17. Jahrhundert zu Zierelementen. Eine Sonderform des Falcione mit einem langen Rückendorn oder Rückenhaken war als Paradewaffe vor allem in venezianischem Gebiet seit der Mitte des 16. Jahrhunderts bis zum Ende der Republik 1797 beliebt (vgl. Kat. Nr. 92). Verwandt mit dem Falcione (ohne Rückenhaken) ist die nördlich der Alpen verbreitete Kuse, die den habsburgischen Kaisern seit Ferdinand I. (1531 König, 1564 Kaiser) bis Joseph II. (1780 – 1790) als Trabantenwaffe diente. Die von den burgundischen Garden herrührenden Stangenmesser fanden schon am Hofe Kaiser Karls V.(1519 – 1556) Verwendung. Seit den Augsburger Nachfolgeverhandlungen 1551 wurden Kusen auch von den Trabanten der österreichischen Habsburger geführt.
Wie die Partisane eignete sich auch der grossflächige Falcione für Dekortechniken aller Art. Mit vergoldetem, geätztem, seltener tauschiertem, ziseliertem oder gemaltem Dekor versehen, war der Falcione in Italien vom 16. – 18. Jahrhundert die bevorzugte Paradewaffe der fürstlichen Garden oder venezianischer Nobili. Auch den Farnese, welche von 1545 bis zu ihrem Aussterben 1731 als Herzoge von Parma und Piacenza regierten, diente der Falcione als Gardewaffe. Es sind zwei unterschiedliche farnesische Falcioni in je einem Exemplar bekannt. So befindet sich in der ehemaligen königlichen Waffensammlung in Turin eine Waffe, die in die Regierungszeit von Alessandro Farnese, 1586 – 1592, seit 1578 spanischer Statthalter in den Niederlanden, datiert wird. Das geätzte Farnesewappen Alessandros schmückt die Kette des Ordens vom goldenen Vlies, den er 1585 von Philipp II. von Spanien erhalten hatte. Der Falcione aus der Slg. Carl Beck, ebenfalls mit dem Farnesewappen, aber ohne das goldene Vlies, kann auf Grund von Form und Dekor dem von 1646 – 1694 regierenden Herzog Ranuccio II. zugewiesen werden. Die Gonzaga in Mantua bewaffneten ihre Garden im 17. Jahrhundert mit vergleichbaren Falcioni. Im Nachlassinventar des am 20. Januar 1731 überraschend ohne männliche Nachkommen verstorbenen Herzogs Antonio von Parma wurden nur 69 Stangenwaffen aufgeführt. Der neue Regent über das Herzogtum Parma und Piacenza, Don Carlos von Bourbon, der Bruder des spanischen Thronfolgers, traf am 9. Oktober 1732 in Parma ein. Nachdem Don Carlos als König Karl VII. 1735 die Herrschaft über das Königreich beider Sizilien übertragen worden war, gelangten die farnesischen Kunstsammlungen, auch die Waffensammlung, nach Neapel. Beim Einmarsch der Franzosen 1799 erlitten die Sammlungen grosse Verluste, die Waffenbestände wurden erheblich dezimiert. Die Seltenheit farnesischer Gardestangenwaffen lässt sich somit mit den seit jeher kleinen Beständen, den Verlusten von 1799 und unkontrollierten Abgängen im 19. Jahrhundert erklären.Weitere Stangenwaffen mit dem Farnesewappen befinden sich in der Wallace Collection – ein Bärenspiess um 1590/1600 (A.937) – sowie im Museo Palazzo Farnese, Piacenza –, ein Falcione mit einem eher problematischen Ätzdekor.
Der Vollständigkeit halber sollen noch zwei von Boccia 1975 erwähnte Stangenwaffen farnesischer Herkunft ohne Wappen aufgeführt werden, die sich im Museo Capo di Monte bei Neapel befinden, eine Halbarte (Boccia Nr. 459, Inv. CA 3600) sowie eine Glefe (Boccia Nr. 503, Inv. CA 3596), beide mit ähnlichem graviertem Dekor.
Literatur: Angelo Angelucci, Catalogo della Armeria reale, Torino 1890, S. 362/363. Letizia Arcangeli, Chronik der Familie Farnese, Der Glanz der Farnese, Katalog, München 1995, S. 21/46. L’Armeria reale di Torino, hg. Franco Mazzini, 1982, S. 375/376, Nrn. 240/242. L. G. Boccia, Die geheime Rüstkammer der Farnese, Der Glanz der Farnese, Katalog, München 1995, S. 151/162, 458/491. Boccia/Coelho, Armi bianche op. cit., S. 379, Nr. 448, S. 380, Nr. 454, S. 381, Nr. 459, S. 388, Nr. 503. Boccia, Museo Stibbert op. cit., S. 151, Nr. 493, Abb. 382. Dizionario Terminologici, Bd. 3, Armi bianche dal medioevo all’età moderna, hg .Carlo De Vita, Firenze 1983, Tafel 61, «Falcione», Abb. F = Waffe Slg. Carl Beck. Du Cange, 1883/1887, 2. Bd., S. 401 «Falco», S. 407 «Falsonus»,
S. 408 «Falco». J. F. Hayward, Les Collections du Palais de Capodimonte Naples, Armes Anciennes Nr. 6, Genève 1956, S. 121/140. Katalog der Leibrüstkammer, 2. Teil, hg. Ortwin Gamber, Christian Beaufort, Matthias Pfaffenbichler, Wien 1990, S. 94. Wegeli, Stangenwaffen op. cit., S. 189/190,
Nr. 1881. Mann, Wallace Collection op. cit., Vol. II, S. 445/446, A 937, Tafel 156. Paolo Pinti, L’Armeria di Palazzo Farnese a Piacenza, Katalog, Piacenza 1988, S. 58/59, Nr. 224. Mario Troso, Le Armi in Asta delle Fanterie europee, 1000 – 1500, Novara 1988, S. 15/17.